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Die pathologische Mutter

Dieser Artikel erschien im unerzogen-Magazin 3/16 (Oktober 2016)

 

Heutzutage haben es Mütter schwer. Egal, wie sie „es“ machen, es kann eigentlich nur falsch sein. Wie eine Mutter zu sein und zu handeln hat, scheint allen klar zu sein – außer den Müttern selbst. Mütter stehen unter dem dringenden Verdacht, dass sie nicht „normal“ sind.  

 

 

Tipps und Rat-Schläge rund um das Thema „erfolgreiche Mutterschaft“ kommen heute nicht mehr nur von nebenan. Unzählige „Experten“ (ver)teilen ihre Ansichten und Patentrezepte ungefragt und ungebremst. Und ehe sich Mutter versieht, ist sie schon etikettiert: Von „Rabenmutter“ (übrigens ein Begriff, den es nur in der deutschen Sprache gibt!) bis „Helikopter-Glucke“ ist alles möglich. Nichts davon hört Frau gern. Deshalb entscheiden sich viele für den „unauffälligen“ Mittelweg, orientieren sich an der Meinung der Experten und an gesellschaftlichen Normen. Nach dem Motto: Wenn ich es so mache wie „alle anderen“, kann nichts passieren. Auch wenn es in ihren Herzen grummelt und alles in ihnen laut „Nein“ schreit.

 

Ganz einfach ist es nicht – den persönlichen Weg als Mutter in einem Dschungel aus Belehrungen, Prophezeiungen und Beurteilungen zu finden und zu gehen. Einen Weg, der Mut und Entwicklung braucht, um das Rollenbild der „richtigen Mutter“ endlich aufzulösen …

 

 

 

Eine Geschichte …

 

Eine Frau. Ein positiver Schwangerschaftstest. Eine Frauenärztin. Aufgrund eines bereits vor der Schwangerschaft diagnostizierten erhöhten Thromboserisikos bekommt die Frau sofort blutverdünnende Medikamente verordnet. Die Schwangerschaft bekommt den Aufkleber „Risikoschwangerschaft“. Ängstlich und erwartungsvoll pilgert die Frau von Vorsorge- zu Vorsorgeuntersuchung. Beruhigung findet sie dadurch aber nicht. Im Gegenteil: Obwohl die Mutter eine „Impf-Vorzeige-Kandidatin“ ist, stellt sich bei der ersten im Mutter-Kind-Pass vorgeschriebenen Blutuntersuchung heraus: In ihrem Blut sind keine Röteln-Antikörper nachweisbar. Eine Tatsache, von der die Frau bis dato nichts wusste – aber gut damit lebte. Jetzt sorgt diese Erkenntnis allerdings für  Aufregung.

 

 

Sechs Wochen vor errechnetem Geburtstermin befindet sich das Ungeborene in Beckenendlage. Laut wird über einen Kaiserschnitt diskutiert. Aber: Das Baby habe ja noch Zeit, sich in die „richtige“ Position zu begeben. Die Frau vertraut ihrer Frauenärztin. Sie möchte sie unbedingt bei der Geburt dabeihaben, was allerdings nur in einem bestimmten Krankenhaus möglich ist. Einem Krankenhaus, das für seine hohe Sectio-Rate bekannt ist und in welchem keine Beckenendlagen-Geburten durchgeführt werden. Doch das Schutzbedürfnis der Frau durch die Ärztin ist groß. Es wird sich schon alles fügen. Dieses Fügen sieht schließlich so aus: Eine ungeklärte Infektion löst Durchfall, Erbrechen und Wehen aus. Fast sechs Wochen zu früh. Zahlreiche CTGs werden gemacht. Niemand kann (oder will) der Frau sagen, was los ist. Dann fällt das Stichwort: pathologisches CTG (mindestens eines der vier Kriterien zur Beurteilung der Herzfrequenz  des Ungeborenen durch den Herzton-Wehen-Schreiber wird als krankhaft eingestuft). Ergo Kaiserschnitt (Anmerkung: Die Diagnose „pathologisches CTG“ gilt laut WHO nicht als eindeutige Indikation für einen Kaiserschnitt. Dennoch ist sie einer der häufigsten Gründe für eine Sectio). Was? Warum? Das Kind sei in Gefahr. Einwilligung. Ergebnis: Frühgeburt, Anpassungsstörung, Neonatologie.

 

Eine gewaltvolle Trennung. Ein verkabeltes Baby. Eine überwältigte Frau, die lange um ihr Selbstverständnis als Mutter ringen wird. Viele Mütter (und Kinder) erleben ähnliche Geschichten. In diesem Fall handelt es sich um meine eigene.

 

 

 

Im Start-Paket: Verunsicherung und Übergriffigkeit

 

Wird eine Frau zum ersten Mal Mutter, fängt sie mit der Orientierung in der ihr neuen Rolle und Aufgabe gewöhnlich bei Null an. Bis zur Geburt des eigenen Kindes konnte der Großteil der Frauen zumeist keine nennenswerten Erfahrungen im Umgang mit Säuglingen sammeln. Sie müssen den für sie und ihre Familie machbaren und glücksbringenden Weg erst finden. Das braucht Zeit, Einlassen, Wachstum. Doch anstelle von Unterstützung und Bestärkung beim Ergründen ihrer persönlichen Mutterschaft erleben sie  – wenn auch nicht absichtlich – zumeist Verunsicherung. Gerade Erstgebärende haben oft das Gefühl: Ob ich dieses Universum der Mutterschaft wohl je ergründen werde? Und bis ich es ergründet habe: Werde ich nicht sehr viel falsch machen? Zahlreiche Gespräche und Erlebnisse lassen mich persönlich zu dem Schluss kommen: Nie zuvor zweifelten so viele Mütter so sehr an ihrer Kompetenz. Und nie zuvor wurden sie so sehr in Frage gestellt und beurteilt.

 

 

Die Etikettierung beginnt bereits mit dem Schwangerschaftswunsch. Entscheidet sich eine Mutter in ihren frühen 20ern für ein Kind, wird sie gern als unerfahren oder verantwortungslos hingestellt. Wagt es eine Frau, ein Leben ohne Kind zu wählen, gilt sie als egoistisch, nur an Karriere und Spaß interessiert. Äußert eine Mutter vielleicht sogar Reue an ihrer Entscheidung, ein Kind geboren zu haben, wird sie für gestört erklärt. Derartige Gefühlsäußerungen widersprechen dem Müttermythos. Kommt eine Frau auf die Idee, sich erst nach ihrem 35. Geburtstag für ein Kind zu entscheiden, erhält sie den wenig schmeichelhaften Orden der „Spätgebärenden“ und zählt ab diesem Zeitpunkt zu den so genannten „Risikoschwangeren“.

 

 

Schon allein die Idee, die Mutter stelle für ihr Ungeborenes eine Gefahrenquelle dar, mutet grotesk an. Gleichzeitig wird der Kriterienkatalog immer umfangreicher: Übergewicht, Bluthochdruck, Heuschnupfen und seelische Probleme sind nur ein kleiner Teil der mittlerweile 52 Risikokriterien (vor 20 Jahren waren es 17). Doch trifft diese Einstufung nicht nur „ältere“ Mütter. Inzwischen wird in Deutschland nur mehr jede fünfte Schwangere NICHT als Hochrisiko für ihr Kind betrachtet. Eigenartigerweise kommen aber 97 % aller Kinder hierzulande gesund zur Welt. Eine Errungenschaft der akribisch-kontrollierenden Vorsorgemedizin? Wohl kaum. Die Risiken und Auswirkungen vieler Untersuchungen sind ungeklärt. Ein Großteil der engmaschigen Kontrollen ist unnötig und nährt höchstens die Angst der Mutter, dass mit ihrem Baby „etwas nicht stimmen“ könnte. Meist ist hier mehr der Geldtasche von Ärzten, Medikamenten-Herstellern und Laboratorien gedient. Aufklärung und Information sind wichtig, ja! Sie sollten allerdings sachlich und ehrlich erfolgen, in einer Atmosphäre frei von Panik- und Absatzförderung. Das würde sich um ein Vielfaches positiver auf eine glücklich verlaufende Schwangerschaft und Geburt auswirken.

 

 

Die wenigsten Mütter allerdings blicken dem großen und wunderbaren Ereignis der Geburt vertrauens- und hoffnungsvoll entgegen. Viele zweifeln sogar an ihrer Fähigkeit zum Gebären. Sie haben – aus verschiedensten Gründen – wenig Vertrauen in ihre natürliche Kompetenz. Und werden abhängig – von Wissen, Fähigkeit, Haltung und Motivation meist fremder „Geburtshelfer“. In einem Gesundheitswesen mit hohem Kostendruck und Personalmangel. Die für einen positiven Geburtsverlauf so wichtigen Zutaten Zeit, Geduld, Vertrauen und Einfühlung sind selten vorhanden. Die geburtshilfliche Kultur vieler Krankenhäuser scheint mit der Spontaneität einer natürlichen Geburt im Widerstreit zu liegen. Weshalb gern nachgeholfen wird. Alina Bronsky (Bestsellerautorin) und Denise Wilk (Doula) liefern in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Buch „Die Abschaffung der Mutter“ Fakten, die nachdenklich stimmen: „Nicht einmal jede zehnte Krankenhausgeburt verläuft ohne medizinische Eingriffe. Bei jeder fünften Frau wird die Geburt mit Medikamenten eingeleitet, jede dritte bekommt mittendrin Wehenmittel, mehr als die Hälfte eine Anästhesie. [...] Jedes dritte deutsche Baby kommt per Kaiserschnitt zur Welt. […] Die Hände eines guten Geburtshelfers gehören in die Hosentaschen – dieser alte wunderbare Grundsatz hat [allerdings] keinen Platz in einer Geburtshilfe, die auf Pathologie statt Respekt und Unterstützung ausgerichtet ist.“

 

 

 

Die ersetzbare Mutter

 

Haben die heutigen Frauen das Gebären verlernt? Nein. Meist fehlt es einfach an der nötigen Prise Vertrauen. Und an einer empathisch-unterstützenden Umgebung. An Personen, die zuhören, zuversichtlich sind, positive Energien fördern. Was Mütter dagegen meist vorfinden: widersprüchliche Informationen, eine Flut an Ratschlägen, Ammenmärchen mit Horror-Potential. Das sorgt für Verwirrung und macht Druck. Frischgebackene Mütter geraten häufig in einen Zwiespalt: Folge ich meinen persönlichen Empfindungen (aber wie sehen diese eigentlich genau aus und sind sie tatsächlich vertrauenswürdig?) oder doch der akzeptierten und  propagierten Öffentlichkeitsmeinung? Alina Bronsky dazu: „Man muss sich seiner Sache schon sehr sicher und sehr gut informiert sein, um sich gegen diesen Druck zu stellen.“

 

 

Meinungen, Ideen und Vorgaben kommen aus unterschiedlichsten Richtungen. Häufig aus dem unmittelbaren Umfeld der Mutter. Genauso häufig aber auch von Experten. So half mir zum Beispiel meine Stillberaterin zwar dabei, nach der traumatischen Geburt meines Sohnes eine Stillbeziehung zwischen ihm und mir zu etablieren. Doch anstatt mein Wissen und Vertrauen rund um die Wonnen und Vorteile des Stillens zu erweitern und zu nähren, sprach sie auch äußerst gerne und ausführlich von gängigen Abstill-Praktiken und -zeitpunkten. Das Dauernuckeln meines Sohnes hätte sie bereits in seinen ersten Lebenswochen „abgestellt“. Und das Stillen über den ersten Geburtstag des Kindes hinaus hielt sie für überbewertet. Ich verdanke es meinem wundervollen Körper (der Milch unter den widrigsten Umständen produzierte), der Hartnäckigkeit meines Sohnes, meiner persönlichkeitsbedingten Zähigkeit und meinem Gespür, dass mein Sohn und ich in puncto Stillen nicht nur Fahrt aufnahmen, um möglichst bald wieder abzustillen, sondern dass wir eine Stillbeziehung erleben, die diesen Namen auch wirklich verdient.

 

 

(Langzeit-)Stillen ist ohnehin ein Thema, das in unseren Breitengraden gerne für Aufregung sorgt. Falschinformationen halten sich trotz Aufklärungsarbeit hartnäckig. Die Klassiker darunter: Das Baby würde durch die Muttermilch nicht ausreichend versorgt werden, es seien gefährliche Schadstoffe in der Milch enthalten, Stillen verursache Karies, das Baby werde verwöhnt und abhängig, die Mutter-Kind-Bindung werde zu eng. Ergebnis: Das Stillen ist für viele Mütter von Anfang an angstbesetzt und fremdgesteuert. Die Fortsetzung vieler Stillbeziehungen fällt häufig gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zum Opfer. So gilt das Stillen von Kleinkindern nach wie vor als ungewöhnlich, nicht der Norm entsprechend. Aber was genau am Stillen ist es, dass in unserer Gesellschaft so häufig Ablehnung hervorruft? Vielleicht der so deutliche Beweis, dass die Mutter nicht so leicht austauschbar ist? In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich allerdings die Überzeugung eingeschlichen, dass die Mutter problemlos und sehr bald ersetzbar ist, durch Tagesmütter, Krippen- und Kindergartenpersonal, Au Pairs, Babysitter, Verwandte etc. Es geht aber noch weiter: Die Mutter steht sogar immer mehr unter Verdacht, die Entwicklung ihres Kindes zu behindern …

 

 

 

Die Mutter als Verhinderin

 

Mütter können nur schwer loslassen und müssen deshalb zum Wohl des Kindes beim Ablöseprozess „von Außen“ unterstützt werden. So sieht der aktuelle gesellschaftliche Tenor aus. Daraus ergeben sich Normen, die oft als gegeben hingenommen und selten hinterfragt werden. Als Beispiel sei der Kindergartenbesuch mit drei Jahren genannt. Doch da Kinder Menschen und keine Fließbandprodukte sind, passt diese äußerliche Vorgabe nicht für alle. Die daraus resultierenden dramatischen Szenarien sind bekannt. Die Antwort darauf: Das muss das Kind halt lernen; und die Mutter auch. Viele Mütter „gehorchen“, die wenigsten fühlen sich wohl dabei. Carola Eder, Autorin des berührenden Buches „Auf den Spuren des Glücks“, hat sich detailliert, fundiert und persönlich mit Familiensituationen im westlichen Alltag auseinandergesetzt. Sie schreibt: „In unserer Gesellschaft hat sich unbewusst folgende Meinung etabliert: ‚Die Zeit im Kindergarten [oder in sonstigen Fremdbetreuungseinrichtungen] ist zwar anfangs schwierig, aber das Kind gewöhnt sich bald daran. Wenn es weint, dann muss es da eben durch. Wenn eine Mutter damit Schwierigkeiten hat, hat sie ein Problem und muss loslassen lernen.‘ Da die meisten Mütter nicht das schwer erträgliche Gefühl haben wollen, eine ‚schlechte‘ Mutter zu sein, sind viele Mütter – was nur menschlich ist – derart beeinflusst von der Meinung der Gesellschaft, dass sie ihren eigenen Gefühlen nicht trauen und ihre Kinder trotz deren Protest in den Kindergarten bringen und sie dort alleine lassen.“

 

 

Viele Mütter spüren den gesellschaftlichen Druck, ihrem Kind nur ja nichts vorzuenthalten, was es angeblich so dringend braucht: adäquate Anregung, Förderung, pädagogisch wertvolles Spielzeug, gemischtaltrige Gruppen, andere Kinder zur Sozialisierung. Außerdem wollen sie ungern als „Entwicklungsbehinderin“ tituliert werden. Ablöseprozesse werden dann oft zu früh und unsanft herbeigeführt. Und das, obwohl viele Mütter instinktiv spüren, dass ihre Kinder sie noch ganz stark brauchen. Tatsache ist: Der Prozess der Loslösung erfolgt sehr individuell. Jedes Kind hat seine persönliche Geburtsgeschichte, Lebensumgebung, Bindungsentwicklung, sein einzigartiges Naturell. Das alles bedingt den Zeitpunkt, zu dem ein Kind bereit ist, sich von selbst weiter zu öffnen. Es ist ein freiwilliger Prozess. Eder dazu: „[Ich konnte] beobachten, dass die Kinder – wenn sie die Gelegenheit dazu erhielten – von sich aus den Ablöseprozess einleiteten und fortsetzten, ohne dass sie dazu ermuntert werden mussten. Aber eben zu einem viel späteren Zeitpunkt, als die Gesellschaft es erwartet.“

 

 

Und zu einem viel späteren Zeitpunkt, als von Wirtschaft und Politik gern gesehen. Denn die Arbeits- und Fachkraft Frau soll nicht zu lange „ausfallen“. Krippen- und Kindergarten-Projekte werden aus dem Boden gestampft und finanziell großzügig unterstützt. Der Staat fördert jeden Kita-Platz mit 1.000 € monatlich (während das vom Deutschen Familienverband geforderte Betreuungsgeld von 700 € je Kind und Monat als nicht realisierbar gilt). Natürlich kommt der Wunsch nach Betreuungsplätzen auch teils – und manchmal sogar recht stark – von den Eltern selbst. Dass diese Situation aber so präsentiert (und akzeptiert) wird, als ob sie Kindern und Müttern bzw. Eltern diente, um gesunde Entwicklung zu garantieren, ist eine gesellschaftlich bedenkliche Entwicklung.

 

 

 

 

Der Wert der Mutter

 

Wenn Eltern Fremdbetreuung in Anspruch nehmen, ist das ihr gutes Recht. Sie selbst kennen ihre Lebenssituation und ihre Ressourcen am besten und treffen die nötigen Entscheidungen. Dass sich Mütter allerdings rechtfertigen müssen, wenn ihr Kind mit zwei oder drei Jahren „noch zu Hause ist“, zeigt deutlich, dass in Gesellschaften wie der unseren der Wert des mütterlichen Tuns weder gesehen noch geschätzt wird. Dass Mütter meist die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Kinder sind und dadurch einen immensen Einfluss auf diese haben, scheint irgendwie übersehen zu werden. Dass sie am besten in der Lage sind, die für sie und ihre Familien passenden und relevanten Werte vorzuleben und zu vermitteln, wird ignoriert. Dass sie „Basis-Managerinnen“ der künftigen Generation und Gesellschaft sind – diejenigen, die am ehesten die Samen von Liebe, Wertschätzung, Akzeptanz und Frieden in die Herzen ihrer Kinder streuen können – entzieht sich erstaunlicherweise der öffentlichen Wahrnehmung.

 

 

Wenn Mütter gerne mit ihren Kindern zusammen sind (und das nicht nur nach Feierabend), ist das weder bedenklich noch bekämpfenswert. Es ist schlicht und ergreifend eine persönliche, private Entscheidung. Kann und darf es sein, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sowohl Struktur als auch Lebensrhythmus von Familien vorgeben, die Zeitpunkte für die Rückkehr an den Arbeitsplatz oder die Loslösung des Kindes von der Mutter (und umgekehrt) definieren, die Anwesenheit der Kinder in Institutionen wie Krippe, Kindergarten oder Schule gesetzlich verordnen? Der dänische Familientherapeut Jesper Juul stellt schon lange die Frage in den Raum: „Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst?“ Menschen sollten die Freiheit haben, selbst für ihr Leben zu entscheiden. Niemand sollte sich gezwungen sehen, eine Verbindung entgegen dem eigenen Gefühl frühzeitig zu lösen. Nur, um den von Politik und Gesellschaft goutierten Werten und Zielen zu dienen. Die amerikanische Familientherapeutin und Autorin Naomi Aldort meint dazu: „Was ist falsch daran, wenn Eltern mit ihren Kindern eng verbunden sind? Weshalb sollten wir dieses schöne Band durchtrennen [zu einem vorgegeben Zeitpunkt] und durch weniger intime Beziehungen ersetzen? Weshalb fliehen wir vor tiefen und liebevollen Zweierbeziehungen? Wahres Selbstvertrauen entwickelt ein menschliches Wesen dadurch, dass es seiner inneren Stimme vertraut und folgt – einschließlich dem gesunden Wunsch: Ich möchte die ganze Zeit bei meiner Mama sein.“

 

 

 

Gibt es sie also, die perfekte Mutter?

 

Feststeht: Es gibt verschiedenste Mütter. Manche wollen sehr bald nach der Geburt ihres Kindes wieder zurück an ihren Arbeitsplatz. Für andere ist es weniger eine Frage des Wollens als des Müssens. Andere Mütter bleiben sehr gerne bei ihren Kindern zu Hause und richten sich ihr Leben derart ein (oder finden entsprechend günstige Umstände vor), dass es möglich ist. Wie auch immer sich eine Mutter entscheidet: Es sollte ihre eigene, persönliche Entscheidung sein (dürfen). Nicht die der Nachbarin, des Ehemannes, des Arbeitgebers, des Staates, der Gesellschaft.

 

 

Dafür braucht es menschen- und beziehungswürdige Lebensbedingungen. Und die Entwicklung einer Haltung, die in den Menschen auch wirklich Menschen sieht. Lebewesen mit unterschiedlichen Bedürfnissen – unabhängig von wirtschaftlichen Vorgaben und gesellschaftlichen Normen. Es braucht die Einsicht, dass Mütter schlicht und ergreifend auch Menschen sind. Experten für ihre Lebensgeschichte, ihre Erfahrungswelt, ihre persönliche Situation, ihre Bedürfnisse und die ihrer Kinder. Sie spüren sehr gut, welcher Weg für sie und ihre Kinder am besten passt und realisierbar ist. Doch dafür brauchen sie Zeit mit ihren Kindern und Familien, Wertschätzung, Wahl- und Beurteilungsfreiheit. Dann können Frauen genau jene Mütter werden, die sie selbst sein wollen. Jenseits von künstlichen und konformistischen Rollenbildern.

 

 

Abschließend soll noch einmal Alina Bronsky zu Wort kommen: „Mütter sind weder wehleidig noch verblendet, weder unfähig noch dumm. In der Kompetenz für ihre Kinder sind Eltern die wichtigste und letzte Instanz – und haben Anspruch darauf, von der ersten Minute an als solche behandelt zu werden.“

 

 

 

Literatur-Box

 

  • Deutscher Familienverband: http://www.deutscher-familienverband.de/
  • Naomi Aldort: Von der Erziehung zur Einfühlung. Wie Eltern und Kinder gemeinsam wachsen können. Arbor. 2016
  • Alina Bronsky, Denise Wilk: Die Abschaffung der Mutter. Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es so nicht weitergehen darf. DVA. 2016
  • Norma Jane Bumgarner: Wir stillen noch. Über das Leben mit gestillten Kleinkindern. La Leche Liga Deutschland. 2013
  • Carola Eder: Auf den Spuren des Glücks. Das Kontinuum-Konzept im westlichen Alltag. Tologo verlag. 2010
  • Susanne Garsoffky:  Die Alles ist möglich-Lüge: Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind. Pantheon Verlag. 2014
  • Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern, oder sich selbst? Ansichten zur Frühbetreuung. Beltz. 2012
  • Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung. Arbor. 2010
  • Gordon Neufeld, Gabor Maté: Unsere Kinder brauchen uns. Genius Verlag. 2006
  • Nicola Schmidt: artgerecht – Das andere Baby-Buch. Kösel. 2016
  • Spiegel-Online-Interview: „Schriftstellerin Alina Bronsky: Sich Hausfrau zu nennen, hat etwas Revolutionäres“. März 2016
  • André Stern und „Die Ökologie der Kindheit“: http://oekologiederkindheit.com/
  • Die Wiener Kinderkrippen-Studie: http://www.univie.ac.at/wiki-projekt/

 

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