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Und sie spielten den ganzen Tag

Spielen ist wichtig. Doch WIE essentiell es tatsächlich ist, wird in vielen Studien immer deutlicher ...

 

 

Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um meine Übersetzung des Artikels "And they played all day" der amerikanischen Familienberaterin Naomi Aldort. Das Original ist auf https://naomialdort.com/ zu finden. Meine Übersetzung erschien im unerzogen-Magazin 01/2018.

 

 

 

Am Klavier spielt der 3-jährige Lennon eine willkürlich aneinandergereihte Tonfolge. „Warum bringst du ihm nicht das Klavierspielen bei?", fragt unser Besucher, denn er weiß, dass ich Pianistin bin. „Aber er lernt doch", sage ich. „Mein Lehren könnte niemals so effektiv sein wie seine eigene natürliche Herangehensweise.“ Mein Freund sieht mich zweifelnd an. „Wenn du nächstes Jahr wiederkommst, wirst du es sehen", sage ich. Obwohl ich keine Ahnung habe, wohin sich Lennons Klavierspiel entwickeln wird, bin ich davon überzeugt, dass der Fortschritt definitiv sichtbar sein wird – sofern er uneingeschränkt spielen und ausprobieren kann.

 

 

Wie viele Eltern und Lehrer haben Bedenken, wenn ein Tag im Leben ihrer Kinder mit Spielen, Spielen und noch mehr Spielen vorbeigeht: „Wann sollen sie denn lernen, wenn sie den ganzen Tag nur spielen?“ Ich dagegen frage mich: Ist Spielen wirklich Zeitverschwendung? Hat die Natur etwa einen Fehler gemacht, als sie alle Jungtiere – einschließlich aller Menschenkinder – mit dem Trieb und der Fähigkeit zu spielen ausgestattet hat?

 

 

Für mich war das Begleiten meiner Kinder ein ständiges Überprüfen der Frage: Kann ich mir selbst und meinen Kindern vertrauen? Oder sollte ich mir vielleicht Sorgen machen, ob sie krabbeln lernen? Gehen? Sprechen? Ja wären vielleicht sogar "Sprech- und Geh-Kurse für Kleinkinder" wichtig und richtig? Interessanterweise ist Sprache das Schwierigste, was es zu erlernen gibt; und dennoch bewerkstelligen Kinder diese Aufgabe, und zwar ganz allein und nebenbei. Tatsächlich lernen Menschen in ihren frühen Lebensjahren am schnellsten; und zwar am besten dann, wenn sie spielen. Den ganzen Tag lang. Ich rief mir immer wieder ins Gedächtnis: Vertraue einfach! Darauf, dass sich die Natur nicht geirrt hat. Dass sie uns alle mit den notwendigen und passenden Anlagen beschenkt hat.

 

 

Also übte ich mich im Vertrauen in die Natur und Natürlichkeit des Menschseins vom ersten Tag an. Und bemerkte sehr schnell: Kinder spielen, spielen, spielen. Und am besten lernen sie eben durch genau dieses Spielen. Kinder sind mit einer unbändigen Neugierde ausgestattet. Ab ihrer Geburtsstunde wollen sie alles wissen, alles herausfinden. Sie fordern sich ständig selbst heraus. Und kommen letztlich auch ans Ziel – nämlich dorthin, wo sie selbst hinwollen. Das alles passiert durch diese natürlicherweise angelegte Fähigkeit, mit der alle Menschen ausgestattet sind: der Fähigkeit zu spielen.

 

 

Wenn Kinder ihre ganze Kindheit lang nur spielten (und das meine ich wörtlich!), wären sie perfekt auf das Leben vorbereitet. Sie wären emotional stark und ausgeglichen und hätten alle grundlegenden Fähigkeiten, ihr Leben zu meistern. Die Angst der Erwachsenen, dass Kinder bestimmte Dinge in einem bestimmten Alter wissen und können müssen, um erfolgreich sein zu können, ist ein enormes Hindernis für das Vertrauen in und Zulassen von natürlichen Entwicklungsabläufen. Wenn Kinder spielen, sind sie selbst die Experten für all diese magischen und nicht greifbaren Prozesse, die in ihnen ablaufen. Wissensaneignung ist nie ein Problem, es ist selten zu spät dafür. Das Problem ist leider eher, dass Kinder oft viel zu früh mit Wissen überladen werden – nicht im Einklang mit ihrem inneren und individuellen Weg.

 

 

Kindern in der Richtigkeit und Wichtigkeit ihres Spiels zu vertrauen, hat unmittelbare Vorteile:

 

1) Das Kind tut im Spiel mit großer Sicherheit genau das, wofür es derzeit emotional, intellektuell und sozial bereit ist.

 

2) Das Kind ist der perfekte Timing-Experte für sich selbst. Hat man das verstanden und akzeptiert, dann sind Sorgen, ob sich das Kind altersgemäß entwickelt oder verhält, überflüssig. Genauso wie Gedanken darüber, welches Spiel denn nun wichtig wäre und was oder wie es lernen sollte.

 

3) Außerdem ist durch das freie Spiel sichergestellt, dass Kinder zu den für sie wichtigen Informationen gelangen und sich selbst mit dem, was für sie aktuell relevant ist, konfrontieren. Heutzutage ist es generell so, dass das Leben – so wie es ist – zu viele Reize bietet. Wenn Kinder dürfen, wählen sie aus dieser großen Fülle das aus, was ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht.

 

Als Eltern können wir einfach unser Leben mit unseren Kindern teilen, unsere Interessen, geliebte Menschen, Freuden, Frustrationen, Aktivitäten. Sie werden uns dabei beobachten, sie werden dabei lernen. Und sie werden uns ihre Bedürfnisse mitteilen – auf spielerische Art und Weise. Kinder, die spielen und ihren eigenen Weg gehen dürfen, werden alles lernen, um genau dorthin zu gelangen, wo sie selbst auch hinwollen!

 

 

Sinnvolles Spielzeug

 

Spielzeug, das Kreativität fördert, gibt kein spezifisches Spiel bzw. keine bestimmten Ergebnisse vor. Hier einige Beispiele: Papier und Farben, Bausteine, Sand, Töpfe und Pfannen, Schachteln mit Kostümen zum Verkleiden, Ton, schlichte Puppen, Gartengeräte und -werkzeuge, Bewegungs- und Klettermöglichkeiten im Freien wie ein Bollerwagen, eine Leiter oder Strickleiter; außerdem übliche Haushaltsgegenstände, auf die Kinder jederzeit zugreifen können, wenn sie Tätigkeiten nachahmen wollen, wie zum Beispiel Kochen, Putzen und Reparieren, sowie Bau- und Montagewerkzeuge.

 

Ich empfehle, Spielzeug zu vermeiden, das Ergebnisse vorgibt und das kindliche Spiel somit in eine bestimmte Richtung dirigiert. Sowie Spielzeug, das die Motivation des Kindes, seine eigenen Gedanken und Ideen einzubringen, untergräbt und das Kind letztendlich demotiviert. Dazu gehören: Malbücher, Spielzeug mit Knöpfen zum Drücken, Puppen, die Gefühle nachahmen oder zu spezifischen Handlungen motivieren, Figuren aus Film und Fernsehen.(Anm. d. Ü.: gemeint sind neben „direktivem Spielzeug“ vor allem auch Beschränkungen des Kreativität durch Kommentare wie „damit kann man das machen“ oder „das ist Batman, also die menschliche Fledermaus, die immer hilft“. Wenn diese Begrenzungen der Spielmöglichkeiten durch andere Menschen wegfällt, kann zum Beispiel auch aus Batman ein Hund in einem Zoogehege werden. Der kindliche Geist ist dazu fähig und gerne dazu bereit, wenn wir ihn nicht in eine gewisse Richtung lenken.)

 

 

 

Wie ist das Spiel also nun beschaffen, das für das Wachstum und Lernen der Kinder so wichtig und wirksam ist?

Die Antwort ist denkbar einfach: selbstinitiiert und  selbstgesteuert. Um ein derartiges Spiel zu fördern, ist es erforderlich, dass wir Eltern  uns zurücknehmen und problematisches Spielzeug entfernen bzw. vermeiden. Tatsächlich sind es immer unser Eingreifen und unser Zutun, die dem kindlichen, kreativen Spiel im Weg stehen. Es ist wohl offensichtlich, warum negative Bewertungen kreativer Prozesse schädlich sind. Weniger offensichtlich ist allerdings oft, dass positive Beurteilungen genauso kontraproduktiv sind: Wenn zum Beispiel ein 2-jähriges Kind einen Turm aus Bausteinen baut, wird es von reinem Interesse und von der Freude am Erschaffen und Lernen angetrieben. Wenn dann aber die Eltern auf dieses Tun mit übertriebener Begeisterung reagieren, verliert das Kind das reine, ursprüngliche Interesse am Bauen und wendet sich stattdessen der Aufgabe zu, in seinen Eltern gewisse Reaktion auszulösen – nämlich Begeisterungsbekundungen. Über die Jahre ergibt sich daraus leicht eine Abhängigkeit von der Bewertung anderer Menschen, was wiederum zu einem Mangel an Selbstvertrauen führt. Außerdem geht die ursprüngliche Motivation ­– um des Spieles wegen zu spielen, einfach um sich selbst auszudrücken und zu erleben – verloren. Viel wichtiger wird die Orientierung am Außen, an den Reaktionen anderer Menschen. Das gefällige Kind ist permanent damit beschäftigt (und auch davon abhängig), ob es die elterlichen Erwartungen erfüllen kann. Kinder verlieren dabei in Folge oft den Kontakt zu sich selbst – zu dem eigenen Sein und den eigenen Interessen.

 

 

Wissenschaftliches Spiel oder Experimentieren

 

Eines Tages nahmen meine beiden Söhne Yonatan und Lennon Topfdeckel aus den Küchenregalen und drehten sie wie Kreisel auf dem Boden. Dann füllten sie die Deckel mit bunten Gegenständen und beobachteten die Vielfalt an Form- und Farbveränderungen, während sich die Deckel im Kreis bewegten. In diesem Kreisel-Spiel sorgten sie selbst immer wieder für Veränderungen und neue Kombinationen, indem sie Formen und Farben variierten; und sie konnten dabei verschiedene Ergebnisse beobachten und erkennen. Als nächstes tauschten sie ganz bewusst die Gegenstände in den Topfdeckeln aus, um gewisse Ergebnisse zu erzielen. Die beiden jungen Wissenschaftler regten jeden Schritt selbst an, sie kommunizierten miteinander, und sie handelten gemäß den Naturgesetzen und konnte diese auch wahrnehmen. Alles automatisch, natürlich, ohne Lehren, ohne Zutun von außen.

 

Ich nenne diese Art von Beschäftigung wissenschaftliches Spiel. Kinder mit Zugang zur Natur (Hof, Bäume, Sand, Steine, Stöcke ...), zur Küche sowie zu allen anderen sicheren Gegenständen und Möbeln im Haus, machen aus jedem Raum ein Labor. Wenn Besuch zu uns kommt und es ist gerade unordentlich, sage ich schlicht und ergreifend: „Oh, entschuldigt das Durcheinander, hier leben drei junge Wissenschaftler, die die Welt erforschen.“ Die Methoden, die Kinder in ihrem Spiel verwenden, sind übrigens identisch mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen. Etwas verändern und beobachten, die Ergebnisse sehen, hören oder spüren, überprüfen, usw.

 

Für Kinder ist das Leben Spiel, und Spiel wiederum bedeutet eben Lernen:
Tofu ist für uns Erwachsene vielleicht etwas zu essen, für einen meiner Söhne allerdings war besagtes Abendessen gestern eine Landkarte unseres Wohnortes (Orcas Island). Stirnbänder werden bei Kindern schnell zu Pfeilen, die mit großer Geschicklichkeit gelenkt werden. Eine Schaukel kann sich im Kreis bewegen, wenn man die Seile eindreht; durch Loslassen geht’s dann die andere Richtung retour. Die Möglichkeiten sind endlos. Auch wenn Kinder nicht immer alles, was sie gelernt haben, in Worte fassen, so lernen sie doch. Immer. Dinge zu benennen, ist nicht wirklich relevant. Das Erfassen des Phänomens an sich ist das, was zählt. Im Wissenschaftsspiel erleben Kinder die Realität, und sie begreifen ihre eigene Kraft, Naturphänomene zu erschaffen und zu beeinflussen.

 

 

Soziales und emotionales Spiel

 

Zunächst ist wichtig: Jedes Spiel, das mehr als eine Person (also das Kind selbst) umfasst, ist sozial. Wenn ein Kind mit anderen spielt (unabhängig von seinem Alter sowie dem Alter der Gefährten), lernt und trainiert es soziales Verhalten. Schließlich müssen ja auch immer die Gefühle und Bedürfnisse der Spielkameraden Berücksichtigung finden.

 

Ein ganz spezielles soziales „Training“ findet statt, wenn Kinder das Leben „proben“. Rollenspiele, in denen Kinder die Rollen von Eltern, Tieren, Pflanzen usw. einnehmen, sind eine wunderbare und einzigartige Möglichkeit, die Realität zu verarbeiten, Ängste zu lindern und einfach alle möglichen „Ichs“ auszuprobieren.  Rollenspiele haben außerdem einen wertvollen therapeutischen Charakter. Im Spiel können Emotionen heilsam entladen werden. Eine Mutter beklagte sich einmal bei mir darüber, dass ihre Kinder ständig spielten, das Haus würde brennen. Sie zogen Wollschals wie Flammen hinter sich her und rannten damit durch das Haus, verständigten alle von der Brandgefahr und löschten das imaginäre Feuer schließlich  mit Pauken und Trompeten, und außerdem mit großer Genugtuung. Es handelte sich dabei um eine Familie, die mit Holz heizte. Die Eltern klärten ihre Kinder natürlich über die Gefahren von offenem Feuer auf. Was die Kinder in ihrem Spiel taten: Sie probten den Ernstfall und bauten dadurch ihre Ängste ab. Einfach indem sie sich mit dem Thema befassten und während des Spiels Erfahrungen sammelten.

 

 

Soziale Fähigkeiten

 

Eine sehr markante Eigenschaft des kindlichen Spiels ist seine starke Regelhaftigkeit. Immer sind es die Kinder selbst, die dabei eine Vielzahl von Regeln kreieren und äußerst gewissenhaft sind, wenn es um deren Einhaltung geht. Ich erinnere mich an eine Gruppe von ungefähr zwölf Kindern (im Alter von 4 bis 10 Jahren). Sie alle hüpften auf einem großen Trampolin. Innerhalb kurzer Zeit war es für die Kinder offensichtlich, dass es einfach zu voll war, um Spaß zu haben. Sehr schnell legten sie die Regel fest: „immer nur drei gleichzeitig“. Einige fingen an, „immer nur drei zur gleichen Zeit“ zu singen, andere stimmten in den Gesang ein und setzten sich dann an den Rand, sodass die drei aktuell hüpfenden Kinder ihr „Dransein“ genießen konnten. Manche Regeln werden von Generation zu Generation weitergegeben, andere werden verändert oder entsprechend angepasst. Je nach Bedarf. Kinder halten sich jedenfalls sehr gern an diese Regeln und lernen dabei alles, was es über soziale Feinheiten, Benehmen und auch Grenzen beim Zusammensein zu wissen gibt. 

 

 

Die Rolle der Eltern

 

Auch wir Eltern sind Kinder, ohne Zweifel. Wir lieben es, eine wichtige Rolle im Leben unserer Kinder und bei ihrer Entfaltung zu spielen. Das darf auch sein. Allerdings sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass es im Leben unserer Kinder für uns Erwachsene keine Hauptrollen gibt. Kreatives, ursprüngliches Spiel braucht nämlich weder aktive Ermutigung noch Unterstützung. Und nein, es ist gewiss nicht unsere Aufgabe, für Spaß und Unterhaltung zu sorgen.

 

Wir sollten wie ein unsichtbares und im Hintergrund agierendes Sicherheitsnetz sein. Freies Spiel können wir fördern, indem wir uns zurücknehmen und raushalten – indem wir nicht eingreifen oder unterbrechen. Und indem wir konstruierte Kursangebote vermeiden bzw. diese nicht dem freien Spiel vorziehen. Stattdessen können wir dem Kind das Gefühl geben, dass wir all seine Entscheidungen und Handlungen voll und ganz mittragen, annehmen und unterstützen. Wenn wir die "Arbeit" dieser jungen Wissenschaftler – also ihr Spiel – wirklich ernstnehmen und respektieren, dann lautet unsere Aufgabe: Wir stellen die Möglichkeiten zur Verfügung, aber wir drängen nichts auf, lenken nicht, beurteilen nicht.

 

Wenn Kinder es wünschen, dass wir mit ihnen spielen, ist es wichtig, dass wir authentische Spielpartner sind. Wichtig ist dabei unser Interesse, nicht unser Interessant-Sein. Das Kind lenkt das Spiel; wir verhalten uns wie Spielkameraden. Das Kind führt; wir sind einfach dabei. Keine Bewertungen, kein Lob, keine Führung und keine übertriebene Begeisterung.

 

Weil Kinder ebenso selbstverständlich authentisch sind, sind sie einander oft wunderbare Spielgefährten. Um miteinander zu spielen, brauchen Kinder weder dasselbe noch ein ähnliches Alter. Am besten läuft es dann, wenn sie sich ihre Spielpartner selbst aussuchen.

 

Das Leben ist ein Spiel. Als Erwachsene haben wir dieses wesentliche Element des Lebens – das Spielen – meist vergessen. Ernsthaftigkeit trat in unser Leben, genauso wie eine künstliche Trennung zwischen Spiel und Arbeit, zwischen Spiel und Erforschen, zwischen Spiel und „wirklichem Lernen“. Unsere Kinder sind hier, um uns das in Erinnerung zu rufen, um uns wachzurütteln, um dieses spezielle Leuchten auch wieder in unsere Augen zurückzubringen; um uns zu zeigen, dass wir ein Leben lang einfach spielen können und dürfen.

 

 

 

 

 

Literaturempfehlung der Übersetzerin:

  • Naomi Aldort: Von der Erziehung zur Einfühlung. Wie Eltern und Kinder gemeinsam wachsen können. Arbor. 2008
  • André Stern: Spielen um zu fühlen, zu lernen und zu leben. Elisabeth Sandmann Verlag. 2016
  • Fred O. Donaldson: Von Herzen spielen. Die Grundlagen des ursprünglichen Spiels. Arbor. 2004

 

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