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I – dream human being, not robot! Oder: Warum träumen heute so wichtig ist

Dieser Artikel ist erschienen in: "unerzogen" (tologo), 2018

Zu träumen – also fest daran zu glauben, dass Menschen Wesen voller Potential und Selbstwirksamkeit sind, die „gute Zustände“ erschaffen und kultivieren können – das wird gesellschaftlich gern mitleidig belächelt. Wird abgetan mit „in einer Traumwelt leben“. Mit „illusorische Hirngespinste haben“. Mit „groß reden, aber nix dahinter“. Bereits ganz junge Menschen erfahren durch ihr Sein Stigmatisierungen. Da heißt es dann oft: „Träumerchen. Hans-guck-in-die-Luft. Ist noch verspielt. Noch nicht reif.“ Für diese Welt. Die sich derzeit im Albtraum-Stadium befindet. Doch gibt es die Chance zu erwachen. Und bei vollem Bewusstsein von einem friedvollen Leben zu träumen …

 

Wo denkst du denn hin? Du träumst wohl. Was du immer alles willst. Das geht nicht. Wie stellst du dir das vor. Das ist wirklich unmöglich. Was du für Ideen hast. Wirst schon sehen: Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Unmöglich. Utopisch. Unrealistisch. Werd erwachsen. Alles geht halt nicht im Leben.

 

Ja, alles schon gehört, wenn ich meine Ideen, Ziele oder Wünsche kundtat. Von unterschiedlichen Menschen, in unterschiedlichen Situationen. Immer mal wieder. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Sondern prägte. Mein Bild von der Welt. Mein Bild von mir selbst. Irgendetwas stimmte da wohl nicht mit meinem unverbesserlichen Glauben, dass auf dieser Erde alles möglich ist. Meine Aufgabe lautete folglich: Realistischer werden. Näher an der Wirklichkeit leben – von der es offenbar nur eine einzige, festgeschriebene, unausweichliche gab. Ich absolvierte also gesellschaftlich Vorgesehenes, wetteiferte, konkurrierte, maß mich, verglich mich, beurteilte mich. Und andere selbstverständlich auch. Gab mich mit vielem zufrieden. Fand mich mit Mancherlei ab. Fiel bisweilen dem traurigen Gedanken anheim: Da ist halt nichts zu machen. Bis ich aufwachte …

 

 

 

Wie das Träumen wieder in mein Leben kam

 

Die Fähigkeit, aktiv zu träumen und dessen Notwendigkeit zu erkennen, kam mit der Geburt meines Sohnes zurück in mein Leben. Seither erwachten in mir wieder neue alte „Lebensgeister“. Als ich begann, diesen mir anvertrauten jungen Menschen ins Leben zu begleiten, gab es hohen Wellengang. Einiges, das ich aufgehört hatte – bzw. nie angefangen hatte – zu hinterfragen, meldete sich nun zu Wort. Immer mehr wurde ich zur Auseinandersetzung mit der Frage gedrängt: „Wie willst du leben?“

 

Waren Träume zuvor eher nächtliche Gäste, so räumte ich ihnen von nun an auch wieder untertags Besuchszeit ein. Um im Sinne Erich Frieds von einer anderen Realität zu träumen: „Was wäre das für eine Welt, wenn die Wirklichkeit, diese Wirklichkeit rund um uns, auch die Wahrheit wäre?“ Es gibt sie einfach nicht: die Wirklichkeit. Sie ist stets das, was wir Menschen erschaffen. Und jederzeit verändern können. Dürfen. Müssen. Besonders in Zeiten wie diesen. In Zeiten von Sich-Bekriegen, sozialer Ausgrenzung, ungehemmter Ausbeutung der Erde, erbittertem Profitstreben, einer Vertiefung von Ungleichheiten, erschreckenden Klimaveränderungen, Konkurrenz und Wettkampf. In Zeiten, in denen die Zukunft noch ungewisser scheint, als sie es ohnehin ist. Mir wurde klar: Mein Sohn ist meine Fortführung. Meine Anteile sind in ihm. Und seine in mir. Wie ich lebe, ist, was er vorfindet. Was ich ihm Gutes tue, wirkt auf mich zurück. Und umgekehrt. Ein „guter Grund“ zum Erträumen neuer Möglichkeiten …

 

 

 

Einmal aufwachen bitte

 

Bereits 1971 schrieb der Biochemiker und Autor Isaac Asimov: „Wir müssen die Umwelt erhalten, die Verhaltensformen, die zur Konsistenz und Lebensfähigkeit der Biosphäre beitragen, die Schönheit und die Harmonie. Die gute Erde stirbt. Darum sollte man im Namen der Menschheit etwas tun. Schnell. Sofort.“ 2012 ließ sich das dann noch mal etwas verschärft lesen: Eine von 22 Wissenschaftlern aus der ganzen Welt in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlichte Studie kündigte den Untergang eines Teils der Menschheit bis 2100 an. Unrealistisch? Kaum. Es schaut einfach nicht „gut“ aus im Moment:

 

Jedes Jahr verenden nicht einzelne Bienen, sondern komplette Völker. In den letzten 20 Jahren sind 75 Prozent der Insekten und 40 Prozent der Feldvögel verschwunden. Schmetterlinge, Vögel, Fische, ja alle großen Säugetiere sind gerade mit dem Aussterben „beschäftigt“. Weg. Für immer. Am Ende dieses Jahrhunderts wird es keinen Regenwald mehr geben. Und auch keine Sandstrände. Das wird alles fein säuberlich zu Zement verarbeitet. Die Wolkenkratzer haben’s nötig. Auch werden mittlerweile die Pole und die Tiefsee nach Bodenschätzen und Erdöl durchwühlt. Während der Meeresspiegel wegen der schmelzenden Eismassen um zwei Meter ansteigen wird. Unsere Computer, Tablets, Handys beinhalten das Erz Coltan; eine Tatsache, die täglich unzählige Menschenleben im Kongo fordert. Alle sechs Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind 15.300 Kinder täglich oder 5,6 Millionen pro Jahr. Während jedes dritte „Kind des Westens“ per Kaiserschnitt, jedes zehnte zu früh geboren wird. Kinder, die heiß debattiert werden: Wie kann man sie am besten fördern? Wie werden sie fit für die (Arbeits-)Welt? Wo bringt man sie untertags am besten unter? Der Autor und Fotograf Michael Mendizza fängt folgendes Bild ein: „Jedes Jahr laufen eine Million Kinder von zu Hause fort – acht Millionen Kinder verbringen mehr Zeit in der Tagesbetreuung als mit den Eltern. Der Anteil berufstätiger Mütter steigt sprunghaft an. Dieses Jahr werden allein zwanzig Millionen Rezepte für höchst suchterregende Psychopharmaka an Kinder – sogar bereits im Vorschulalter – ausgestellt, um deren Verhalten zu kontrollieren. Selbstmord als Todesursache rangiert unter amerikanischen Kindern an dritter Stelle, und das bedeutet einen Teenager-Selbstmordversuch alle 78 Sekunden.“

 

Auszug aus einer verrückten Welt. Bei weitem nicht alles. Aber es reicht, um zu schlucken. Und sich zu fragen: Hilft es, von einer „neuen Welt“ zu träumen? Ich denke: Ja! Denn zu träumen, bedeutet: Kraft zu haben. Einen Willen zu haben. Eine Vision des Guten zu haben. Träume sind ein Aufflackern in uns; ein Wissen, dass Glück möglich ist. Dass Friede möglich ist. Dass Liebe möglich ist. Träume sind ein Zugang zu einer anderen Wirklichkeit. Eine Einladung zur Erkenntnis, dass es mehr gibt, als angelernte Gedanken- und Verhaltensmuster. Zu träumen ist eine Gabe, ein Geschenk. Die Zukunft ist noch nicht geschrieben …

 

 

 

Auf die Haltung kommt es an

 

Die Zukunft schreibt ein jeder von uns mit. Täglich. Denn täglich haben wir die Möglichkeit, uns zu entscheiden. Für: dem „Guten“ in der Welt Vorschub leisten. Ideen, Innovationen, Initiativen gibt es viele. Fabian Scheibler schreibt in seinem Buch „Das Ende der Megamaschine“: „Fast jeder Bereich unserer Gesellschaft und Wirtschaft ließe sich vollkommen anders organisieren: In wenigen Jahren etwa könnte die gesamte Landwirtschaft der Erde zu ökologischem Landbau konvertieren und damit 40 Prozent aller Treibhausgasemissionen einsparen; ein gemeinwohlorientiertes Geldsystem könnte das gegenwärtige Finanzcasino ersetzen und seit Jahrzehnten gibt es Konzepte für dezentrale, erneuerbare Energien, intelligente öffentliche Verkehrssysteme, faire Arbeitsteilung und regionale Wirtschaftskreisläufe. All das wäre möglich, wenn – ja, wenn was?“

 

In den vergangenen Jahren mit meinem Sohn trat mir eine mögliche Antwort immer deutlicher vor Augen: Es liegt an uns! An unserem festen Willen, die „guten Samen“ in uns zu wässern. Den so genannten „Anfängergeist“  in uns wach zu halten. Uns also immer wieder aktiv für die Genese unserer Friedfertigkeit zu entscheiden: Mitgefühl, Großzügigkeit und Verständnis zu entwickeln. Uns selbst gegenüber. Und nicht zuletzt: unseren Kindern gegenüber. Der Weg zu einem friedvollen Miteinander führt über die elterliche Begleitung der anvertrauten Kinder – so sah das zum Beispiel auch Albert Einstein: „Die Mütter der ganzen Welt haben die Verantwortung, ihre Kinder im Sinne der Friedenserhaltung zu erziehen.“ Aber wie? Gibt es eine Anleitung? Diese Frage stellen sich heute sehr viele Eltern. Sie suchen Orientierung in Ratgebern, in Methoden. Doch lässt sich die Antwort wohl nur finden, indem wir uns selbst an die Hand nehmen und einer neuen Haltung entgegenspazieren. Einer Haltung, die auf Respekt, Vertrauen und Liebe basiert. André Stern – Autor, Musiker und gefragter Referent in Sachen Bildung – schreibt dazu: „Entscheiden wir uns, die natürlichen Veranlagungen des Kindes ohne Wertung oder Abwertung zu akzeptieren, dann verlangt dies, dass wir unsere eigenen Erfahrungen, Erwartungen, Vorstellungen, Gewohnheiten, Wünsche und Konditionierungen beiseite legen. Da wir alle so sehr davon geprägt sind, kann uns das destabilisieren und schwierig erscheinen. Doch es gibt einen Weg, schwerwiegende Fehler zu vermeiden und die Angst zu überwinden: niemals von uns selbst, immer vom Kind ausgehen. Machen wir also Tabula rasa mit unseren Glaubenssätzen. Gehen wir vom Kind aus, lassen wir uns von der Begeisterung mitreißen, sie zu beobachten, bewundern wir den Genius der Natur. Alles, was das Kind braucht, ist Vertrauen. Grenzenloses Vertrauen, das man ihm entgegenbringt, Vertrauen, dass das Spiel, welches es spielt, das richtige ist, Vertrauen in die Relevanz seines aktuellen Entwicklungsstadiums. Es geht um Vertrauen, darum, das Vertrauen der Eltern wieder herzustellen, und das Vertrauen der Kinder zu bewahren.“

 

 

 

Was das mit dem Leben auf dieser Erde zu tun hat …

 

Jeder Mensch ist ein Wunder. Und „funktioniert“ nach seinem eigenen Plan. Deshalb ist es unsinnig, Regeln und Pläne „für alle“ aufzustellen. „Kinder brauchen“ – derartige Formulierungen bringen nur Verwirrung. Und Leid. Werfen alle in einen Topf. Und kochen sie alle nach ein- und demselben bevormundendem Rezept. Doch sind sie alle grundverschieden. Lernen und leben auf so unterschiedliche Art und Weise. Haben individuelle Geschichten, verschiedene Ausgangssituationen. Schwächen und Stärken. Haben aber definitiv alle spezielle Gaben. Und die gilt es zu sehen. Zu würdigen. Und in Ruhe zu lassen, damit sie reifen können. Zeitgeben, Wartenkönnen: Das  unterstützt den jungen Menschen ungemein. Deshalb braucht es eine Bewusstheit in der Lebens- und Tagesgestaltung. Einen Verzicht auf zu viele Termine, zu viele Pläne. Auf ein Durchtakten. Sinn macht das Einrichten eines „großen Puffers“, damit Prozesse in Gang gesetzt werden können. Und auch abgeschlossen. Das beginnt zum Beispiel mit „simplen“ Erkenntnissen wie: Ich lasse mein Kind schlafen, wenn es müde ist. Und ich lasse es aktiv sein, wenn es wach ist.

 

Kein ständiges Neu, Mehr, Abwechslung. Sondern Muße für unendliche Wiederholungen. Genug Raum für die vom jungen Menschen auserwählten Rituale (im Gegensatz zu den ihnen aufgezwungenen „Ritualen“, damit sie den Tagesablauf ja nicht durcheinanderbringen). Einen sicheren Ort für „Ticks“. Ohne den Drang, diese sofort mit Etiketten zu versehen. Es geht um eine bewusste Annahme der kindlichen „Zustände“, um ein „Aushalten“ dieser, ohne gleich davon abzulenken (und uns infolge über die mangelnde kindliche Konzentration zu beklagen). Es geht um den Verzicht auf Zwang. Um den Verzicht auf Gewalt. Weg von undurchsichtigen Ver- und Geboten, die über Manipulation und Strafe durchgesetzt werden. Auch weg von einem Aufbürden von Entscheidungen, die junge Menschen selbst noch nicht treffen können. Hin zu einem respektvollen Begleiten bei ihren Erfahrungen. Zu einem Offenlegen unserer elterlichen Beweggründe für bestimmte Entscheidungen. Weg vom Negieren. Hin zum Ernstnehmen.

 

Ein Kind zu respektieren bedeutet auch, sich seines eigenen Zwangs, dem Kind ständig etwas zeigen oder erklären zu wollen, bewusst zu werden. Und sich aufrichtig dafür zu entscheiden, weniger zu (be)lehren; stattdessen mehr zu schauen und zu staunen. Weniger Aufgaben zu stellen; stattdessen wahrzunehmen, welche – oft unglaublich komplexen – Aufgaben sich der junge Mensch selbst stellt. Weniger zu diktieren; stattdessen interessiert zu sein, präsent sein. Weniger zu befehlen; stattdessen mehr zu beobachten. Weniger zu beurteilen; stattdessen mehr wertzuschätzen Das schafft gute Lernbedingungen. An sich logisch, aber noch keineswegs selbstverständlich. Muhammad Yunus, indischer Wirtschaftswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger, sieht genau hierin das Problem des „heutigen primären Bildungssystems“: „Wir helfen den jungen Leuten nicht herauszufinden, wer sie sind und welches ihre Rolle in der Welt sein könnte. Das stillschweigende Ziel der heutigen Schulbildung könnte so lauten: Arbeite hart, schreib gute Noten und kämpfe darum, den besten Job zu ergattern. Das ist deprimierend. Der Mensch kommt ja nicht zur Welt, um für einen anderen Menschen zu arbeiten und sein Auskommen zu haben; er ist ein einzigartiges Geschöpf in einer Welt voller Schöpfungen. Aber diese Einzigartigkeit wird völlig beiseite geschoben, verdrängt, in ein Schema gepresst. Erziehung müsste darin bestehen zu sagen: Du bist ein Mensch voller Potential, du hast die Kraft, das zu werden und das zu tun, was du willst. Es gibt zehntausende Optionen, die dir offen stehen. In welcher Welt möchtest du leben? Was für eine Gesellschaft willst du mit aufbauen? Heutzutage ist es nämlich so, als würde man allen Schülern ein Skript in die Hand rücken und sie auffordern, ganz brav ihre Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Die meisten Schulen arbeiten daran, Maschinen aus den Kindern zu machen, Roboter. Das muss sich ändern.“

 

All diese Schritte helfen jungen Menschen, in Verbindung mit sich selbst zu bleiben; ihre Liebe zu ihrem Körper, zu anderen Menschen, Dingen, Lebewesen, ja zu unserer Erde zu erhalten. Und hierin liegt der Weg zum Frieden in dieser Welt. Wenn wir das „schaffen“, nämlich unsere Kinder „ganz“ zu lassen, ihr Tun, ihre Begeisterung, ihr Sein nicht zu (zer)stören und ihnen ohne Worte die Botschaft zu übermitteln: So wie du bist, bist du richtig und wichtig – wenn wir ihnen diesen Respekt zollen, dann wird sich in vielen anderen Bereichen auf dieser Welt – in Wirtschaft, Finanz, Politik etc. – auch etwas verändern. Marie Martin, Autorin und Theaterpädagogin, dazu: „Wenn Familien sich für einen anderen Weg entscheiden und Kindern einen geschützten Raum anbieten, in dem sie anders aufwachsen können, kann dieser Raum auch eine Kraft entwickeln gegen viele Tendenzen in der Gesellschaft, die eher den Wettbewerb und die Konkurrenz fördern, den Konsum und das Zweck. Und zielorientierte Denken. Aber unser Planet braucht Träumende mit einem liebenden Herzen. Unser Planet braucht Menschen, die sich der Verbundenheit verschreiben und die alle Wesen gleichermaßen respektieren. Unser Planet braucht Menschen, die die Muster, die über Generationen weitergegeben werden, auflösen. Wenn Kinder nicht in vorgefertigte Muster gepresst werden, was „man“ tun sollte und wie man zu sein hat, und sich entfalten können, macht das einen Unterschied. Wenn Eltern selbst hinterfragen, welche dieser Muster in ihnen selbst noch aktiv sind und wie man eine Kraft entwickelt, sich für etwas anderes zu entscheiden, macht das einen Unterschied. Einen sehr großen Unterschied.“

 

 

 

I have a dream …

 

Was eine derartige Haltung von Eltern fordert: vor allem Großzügigkeit. Großzügigkeit, was ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe, ihr Vertrauen dem Kind gegenüber betrifft. Das gestaltet sich allerdings aus zweierlei Gründen nicht ganz einfach:

 

·         Vielen Menschen fällt eine derartige „Selbstlosigkeit“ schwer, haben sie eine solche doch selbst nicht oder kaum erfahren und leben dadurch mit der unterschwelligen Angst, zu kurz zu kommen, übervorteilt zu werden, übrig zu bleiben. Als Folge bleiben dann oft die Bedürfnisse ihrer Kinder ebenfalls – zumindest zum Teil – ungestillt. Doch müssen unsere Kinder „satt“ werden. Pappsatt. In ihren menschlichen Grundbedürfnissen. Dann können sie wiederum mit ihren eigenen Kindern in einem selbstverständlichen Akt der Liebe und nicht in Konkurrenz leben.

 

·         Leider geht diese Haltung mit heutigen gesellschaftlichen Erwartungen und Übereinkünften nicht leicht zusammen. Woher die Zeit fürs Zusammensein nehmen, wenn Kinder und Eltern ihre Tage in getrennten Welten verbringen? Woher die bedingungslose Liebe, die Annahme und Geduld nehmen, wenn alle Parteien vom auferlegten Tagespensum erschöpft sind? Woher das Vertrauen nehmen, in einer Gesellschaft, in der Angst regiert? Angst vor Krankheit; Angst, keinen Job zu bekommen; Angst, nicht mithalten zu können. Angst, zu wenig zu haben. Angst vorm Leben.

 

Ich träume davon, dass wir lernen, mit unseren Ängsten umzugehen. Eine Möglichkeit hierfür ist, sich bewusst zu werden, dass wir eigenständige Wesen sind, die eigenständige Entscheidungen treffen. Und keine Marionetten in einem fremdgesteuerten Drama. Dass wir begreifen, dass wir eine Wahl haben. Dass wir selbst es sind, die unser Tun und Sein verantworten. Dass wir etwas bewirken können. Vor allem in unserer eigenen Lebensgestaltung. Dass wir uns trauen, mit gesellschaftlichen Absprachen von flexibel bis rigoros umzugehen, damit unsere Kinder keine Opfer der Umstände werden. Ich träume von einer Welt, in der wir uns einbringen, unser Licht leuchten lassen. Im Sinne von Marianne  Williamson: „Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns ist, sichtbar und spürbar werden zu lassen. Sie ist nicht in einigen von uns. Sie ist in allen Menschen. Wenn wir unser Licht scheinen lassen, geben wir damit unbewusst anderen die Erlaubnis, es auch zu tun. Wenn wir von unserer Angst frei sind, befreit unsere Gegenwart wie von selbst andere Menschen.“

 

Ich träume davon, dass wir uns wie Reinhard Mey in einem seiner Lieder für den „g‘raden, den schweren Weg“ entscheiden. Also für unseren persönlichen. Auch wenn er steinig erscheint. Ich träume davon, dass wir nicht „man“ sind. Sondern persönlich. Dass wir uns vom Gleichsein befreien und Vielfalt einladen. So wie der bekannte Arzt und Philosoph Albert Schweitzer formulierte: „Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen, wenn ich es kann. Ich habe gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, der Welt gerade ins Gesicht zu sehen und zu bekennen: Dies ist mein Werk. Das alles ist gemeint, wenn wir sagen: Ich bin ein freier Mensch!“

 

Ich träume davon, dass wir beginnen, die vielen, kleinen Wunder zu erkennen. Dass wir unser Sein in einem großen Zusammenhang zu begreifen lernen. Vereinfacht etwa: Der Stuhl auf dem ich sitze, war einmal ein Baum. Ein Lebewesen, das bis zu 15 Kilogramm Sauerstoff täglich erzeugt, welchen ich wiederum zum Atmen brauche usw. Ich träume davon, dass wir mit staunenden Augen in die Welt blicken, statt mit bewertenden. Dass wir uns in Unvoreingenommensein üben, satt in Kategorisieren und Trennen. Dass wir uns vor unseren dunklen Seiten nicht mehr fürchten. Dass wir uns darauf ausrichten, mit diesen gut umgehen zu lernen und zu können. Wie auch mit den uns innewohnenden Sonnenseiten. Dass wir vom Stuhl der Angst, der Bestrafung, des Lobs und der Schuld aufstehen, uns aufrichten. Und uns gemeinsam auf den Weg machen, indem wir uns beim „Gut-Sein“ unterstützen. Sei es im kleinen Rahmen innerhalb der Familie. Oder im größeren Kontext als Vereinigung von Menschen, die sich für eine gemeinsame „gute Sache“ engagieren. „Arbeite für den Frieden. Und verliere nie die Hoffnung“, ermutigt der Dalai Lama. Ja, ich glaube fest daran, dass ein gutes Leben möglich ist. Ich – Träumerin, Romantikerin, Utopistin. Was auch immer. In jedem Fall: Ich – ein Mensch aus Fleisch und Blut. I – dream human being, not robot …

 

 

 

Literatur-Box:

 

  • Clemens G. Arvay: Der Heilungscode der Natur: Die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken. Goldmann. 2018
  • Albert Einstein. Sigmund Freud: Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Diogenes. 1972
  • Cyril Dion: Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen. J. Kamphausen Mediengruppe. 2017
  • Ralph Waldo Emerson: Vertaue dir selbst! Ein Aufruf zur Selbstständigkeit des Menschen. Holzinger. 2016
  • Thich Nhat Hanh: Die Heilkraft buddhistischer Psychologie. Goldmann. 2013
  • Thich Nhat Hanh: Versöhnung mit dem inneren Kind. Von der heilenden Kraft der Achtsamkeit. O. W. Barth. 2011
  • John Holt: Kinder lernen selbstständig. Oder gar nichts. Beltz. 1970
  • Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Knaus. 2018
  • Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift. C. H. Beck. 2017
  • Myla und Jon Kabat-Zinn: Mit Kindern wachsen: Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie. Arbor. 2015
  • Sebastian Kühn: Das Handbuch für digitale Nomaden. Selbstbestimmt leben – ortsunabhängig arbeiten. Redline Verlag. 2016
  • Harald Lesch: Die Menschheit schafft sich ab. Die Erde im Griff des Anthropozän. Knaur. 2018
  • Marie Martin: Der kleine große Unterschied. In: Mit Kindern wachsen. Neue Perspektiven und Wege im Leben mit Kindern. Arbor. Juli 2018
  • Alexander Sutherland Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Rowohlt. 2004
  • Rotraud A. Perner: Liebe macht gesund. Salutogenese im Alltag. Aaptos Verlag. 2004
  • Fabia Scheidler: Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation. Promedia Verlag. 2017
  • André Stern: Werde, was du warst. Manifest für eine Ökologie der Kindheit. Ecowin. 2016
  • Alan Thomas: Wie Kinder zu Hause lernen. Tologo. 2016
  • Gudrun Totschnig, Sigrid Haubenberger-Lamprecht, Alexandra Terzik-Auer: Lernen ist wie Atmen. Eigenverlag. 2017
  • Peter Wohlleben: Das geheime Netzwerk der Natur. Ludwig. 2017
  • Jörg Zink: Ufergedanken. Gütersloher Verlagshaus. 2007

 

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